Kein Hirnödem ohne Hirn – Patagonien Teil 2

IMG_1823Tag 684 bis Tag 700, Sonntag 13.03. bis Dienstag 29.03.2016 – Weltklasse Rafting, Ostern in Bayern, Regen im Regenwald, Trekking am aktiven Vulkan und ein Hilferuf im Hotel: Patagonien bietet doch noch mehr als Steppe und Steppe.

Wild Campen in Patagonien ist in etwa so schwierig wie einem Dreijährigen ein Eis wegnehmen. In jedem Tal gibt es mindestens einen Fluss mit vorzüglichem Trinkwasser, trockenes Feuerholz liegt überall herum und einen geeigneten Campingplatz auf Sand, Kies oder Gras findet man alle 20 bis 40 Kilometer. Ob es legal ist? Keine Ahnung. Das interessiert hier Niemanden, am allerwenigsten die Polizei. Was braucht man sonst noch so? Etwas zum Grillen oder Kochen, ein paar Flaschen Wein und einen Spaten. So einfach ist es. Während der ersten sieben Tage zurück in Chile schlafen wir viermal unter freiem Himmel, grillen Rinderfilet oder Blutwürste auf der Murika und lassen es uns einfach gutgehen. Zwischendurch leihen wir uns am Lago General Carrera Kajaks und paddeln zu Marmorhöhlen. Theoretisch bin ich durch Wellengang und Wind bereits nass genug. Der eigenwillige Paddelstil von Susi tut sein übrigens, um mich bis auf die Unterhose zu durchnässen. So wie sie ihr Paddel bewegt, hat es mit Fortbewegung ohnehin eher weniger zu tun. Es ist, als würde sie versuchen, dass Wasser aus dem See zu schöpfen – direkt in meine Hose. Falls dieses das Ziel ist, dann erfüllt sie es mit Bravour.

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Paddeln durch Marmorhöhlen

Einzig zum Champions League schauen und Vorräte auffüllen muss man notgedrungen in die zivilisierte Welt. In Cohayche bleiben wir zwei Tage und ich überlege mir, einen Frisör aufzusuchen. Nach mehr als zehn Wochen kann man das Zeug auf meinem Kopf nicht mehr wirklich Frisur nennen. Im Hostel frage ich also eine Angestellte: „Hey, wo gibt es denn hier einen guten Frisör?“ – „Wie lange bist Du denn noch in Chile unterwegs?“ bekomme ich als Antwort. „Wie meinst das?“ – „Na länger oder kürzer als zwei Monate?“ – „Denke kürzer als zwei Monate, wieso?“ – „Dann geh in Chile nicht zum Frisör!“ Okay, klare Ansage. Meine Frisur ist wohl noch überdurchschnittlich gut oder die Frisörmeister in Chile unterdurchschnittlich fähig. Wer hätte das gedacht.

Wunderschön und MalerischAm ‚wunderschönen Campingplatz direkt am Fjord’ (Zitat Reiseführer) kommen wir zu der Erkenntnis, dass die Reiseführerindustrie eine ähnliche Geheimsprache nutzt, wie sie in typischen Arbeitszeugnissen vorherrscht. ‚Wunderschön’ bedeutet im Klartext so etwas wie ‚schäbig und heruntergekommen’. Der Campingplatz war um ein adäquates Erscheinungsbild stets bemüht, allein es fehlt die Motivation der Besitzer dies umzusetzen. Unterhalb einer Reiseführer-Einstufung mit dem Adjektiv ‚malerisch’ übernachten wir ab jetzt nirgendwo mehr. Es ist auch erstaunlich, wie oft in so einem Reiseführer das Superlativ ‚beste Wanderung’ oder ‚schönster Nationalpark Chiles’ vergeben wird. Rechnet der Auto nicht damit, dass manche Menschen auch mehr als drei Seiten lesen? Oder sich gar erinnern können? Oder meint er vielleicht ‚beste Wanderung’ die ich auf Seite 378 links oben beschreibe. Die jedenfalls beste Raftingtour soll es am Futelafue geben. Genau dahin fahren wir jetzt.

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Pfannkuchen beim Wild Campen – Grandios!

Rafting Rio Futelafue25 Kilometer vor dem kleinen Dorf Futelafue finden wir einen – im Klartext – wunderschönen Platz zum Wild Campen. Direkt am Fluss. Mit kleinem Becken zum Baden und entspannen, ehe es am nächsten Tag in die Stromschnellen geht. Weltweit gehört das Rafting am Futelafue zu den TOP 5. Es gibt drei Kategorie 5 und etliche Kategorie 4 / 4+ Stromschnellen. Die dazwischen liegenden Kategorie 3 werden schon gar nicht erwähnt oder benannt. Zur Erinnerung, bei meiner ersten Rafting Erfahrung am Rio Genil in Spanien wäre Kategorie 3 das absolute Highlight gewesen. Mit an Bord sitzen Valentina und Joaquin, ein frisch verheiratetes Paar aus Santiago. „Was machts Du, wenn deine Frau über Bord geht?“ will Guide Christian bei der Sicherheitseinweisung wissen. „Paddeln, Paddeln, Paddeln – so schnell bekomme ich sie sonst nicht mehr los!“ antwortet Joaquin. Valentina lacht. So wie die ganze Zeit. Das läuft. Vor dem ‚Terminator’, der ersten Kategorie 5 Stromschnelle, stoppen wir kurz am Ufer, damit sich Christian vorab von einem kleinen Felsen den Verlauf nochmals anschauen kann. „Das machen wir immer, weil je nach Wasserstand die Stromschnelle anders zu fahren ist. Aber so wenig Wasser wie heute hatten wir noch nie. Keine Ahnung.“ sagt er mit Falten auf der Stirn. „Jungs, ich weiß nicht recht. Wir haben zwei Optionen. Entweder wir versuchen es, oder wir laufen am Rand vorbei und lassen das Boot am Seil durch. Das müsst ihr entscheiden. Wir können es schaffen…aber wir können auch kentern.“ Im Normalfall ist ein Flip (wenn das Boot sich umdreht) nicht sooo dramatisch. Hier allerdings gibt es überall Felsen und Steine. Die Furchtlosigkeit der Ahnungslosen (wir) entscheidet allerdings über die Vernunft des Guides. Natürlich versuchen wir es. Wir schaffen es sogar ohne Flip, nicht allerdings ohne frontal auf einen richtig fetten Fels zu fahren. Rückwärts manövrieren wir herunter. Das Boot ist bis zum Rand voll mit Wasser. Wahnsinn. Die weiteren Stromschnellen sind nicht weniger spektakulär. Einmal dreht sich das Boot komplett, einmal falle nur ich über Bord. Verschwörungstheoretiker könnten hier vermuten, Wolf hätte mich geschupst. Wie auch immer, das Superlativ ‚beste Raftingtour’ darf hier zweifelsfrei vergeben werden.

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Campen im Flussbett

„Zimmertelefon? Geh ich nicht ran!“Nach Wolfs Pfannkuchen zum Frühstück ziehen wir weiter nach Norden durch den Pumalin Nationalpark. Der schönste Park Chiles, natürlich. Für uns nicht unbedingt, denn es regnet. Okay, im Regenwald darf es auch mal regnen. Also wollen wir uns nicht zu sehr beschweren. Trotzdem fahren wir so schnell als möglich weiter. In Puerto Varas gönnen wir uns dann nach so viel Wildnis und Regen ausnahmsweise einmal ein vernünftiges Hotel mit Sauna, Pool und riesigem Kaminzimmer. Muss auch mal sein. Allerdings ist die Sauna getrennt in Damen und Herren, weswegen Susi und ich uns irgendwie im gemeinsamen Poolbereich nicht finden. Nach mehrmaligem Absuchen des kompletten Areals erhalte ich die Info, dass ‚die blonde Dame’ schon gegangen sei. Ich versuche also im Zimmer anzurufen. Kein Erfolg. Langsam mache ich mir Sorgen und watschel in Bademantel, FlipFlops und mit nassen Haaren durchs Luxushotel drei Stockwerke hoch in unser Zimmer. Wo ist sie nur, die Susanne? Im Bett liegt sie und schaut Tatort. „Hallo? Ich hab grad angerufen.“ – „Hab ich gehört“ – „Wieso bist nicht ran?“ – „Bist verrückt? Was wenn da jemand Spanisch spricht?“ – „Bitte was? Wer soll Dich denn anrufen, der Spanisch spricht? Der Gärtner vielleicht?“ – „Außerdem ist das Telefon zu weit weg!“ Das Telefon steht auf dem Nachtisch keine drei Meter entfernt. Das ist schon mega-weit. Viel weiter als die drei Stockwerke durch das gesamte Hotel. „Aber wenn Du schon mal da bist, kannst mir ja das Wasser vom Tisch geben. Dann muss ich nicht aufstehen!“ Manchmal denke ich echt, ich müsste Susi Thrombosestrümpfe anziehen, so wenig bewegt sie sich an Faulenzertagen. Ab zwölf Stunden soll das ja gefährlich sein. Und weil ich tagsüber nicht genug gelaufen bin, bekomme ich später am Abend noch eine Hilfs-SMS ins Kaminzimmer: ‚Komm schnell. Bin ohne Schuhe und ohne Schlüssel aus dem Zimmer.’ Offensichtlich hat sie weder an Schlüssel noch an Schuhe gedacht, als sie aus dem Zimmer ist…Hauptsache das Handy ist dabei!

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Vulkan Osorno

Ostern in BayernPünktlich zu Ostern erreichen wir eine kleine Enklave deutscher Auswanderer. In Puerto Oktay (und Umgebung Puerto Varas) zeugt alles von deutschen Wurzeln: der Verweis auf das nach deutschem Reinheitsgebot gebraute Bier, Spanferkel mit Sauerkraut, deutsche und bayrische Flaggen. Wäre nicht am Horizont ein perfekt kegelförmiger Vulkan zu sehen, man könnte fast denken, wir wären in Bayern. Einzig die Schilder zu ‚Deutschen Vereinen’ in altdeutscher Schrift und mit Reichsadler versehen wirken ein wenig befremdlich. Bayern vor 80 Jahren vielleicht. Ursprung der deutschen Vorherrschaft in diesem Gebiet war die vermeintliche Unfruchtbarkeit der Gegend. Für die spanisch orientiere Bevölkerung ist ein Gebiet, in dem keine Zitrusfrüchte wachsen, schlichtweg unnützes Land. Bis 1850 blieb es von den Eroberern ungenutzt. Dann holte man ein paar Deutsche Bauern. Sie fühlten sich wie im Paradies. Fruchtbare Böden, grüne Wiesen, regelmäßig Regen, viel Sonne. Eigentlich perfekte Bedingungen. Außer für Zitrusfrüchte natürlich. Übrigens treffen wir in dieser Region erstmals auf ein vollständig asphaltiertes Straßennetz und eine doppelspurige Autobahn. Zufall?

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Trekking Villarica mit Steigeisen

Vulkan Trekking am VillaricaIn Pucon besuchen wir Ilse, die Schwiegermutter einer von Susis Freudinnen. Ilse ist eine rüstige, fitte 70-Jährige und lässt uns ein paar Tage bei sich unterkommen. „So, wie bekommen wir Euch denn jetzt noch satt?“ werden wir bei unserer Ankunft um 20:00 Uhr begrüßt. „Aber lass erst mal einen Pichuncho trinken.“ Pisco mit Wermut und ein bisschen Zitronenschale – also Alkohol mit Alkohol mit einem Fitzelchen Zitronenschale. Im 0,2 Liter Glas. Da wäre das Thema mit dem Essen danach theoretisch auch erledigt. Praktisch plappern wir noch ewig witziges Zeug und Ilse serviert dazu Schinken, Salami, Käse und alles was sie eben findet. Wir brauchen diese Energie, morgen früh um 5:30 Uhr ist Aufbruch zum Trekking auf den aktiven Vulkan.

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Auf 2.800 Meter reicht der Blick bis Argentinien
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Am Kraterrand Villarica
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Sprudelnde Lawa

Der Villarica ist letzmals im März 2015 ausgebrochen, eine Besteigung ist nur mit erfahrenen Bergführern einer Agentur möglich. Morgens um 6:15 Uhr sitzen wir also im Büro der Agentur und bekommen unsere Ausrüstung. Die Grupppe besteht aus drei Deutschen (wir), neun Isrealis (Alter 20-24, alle direkt nach dem Militärdienst) und den vier spanischen Guides. Untrainiert wie wir sind, überkommt uns die Angst, am Berg von den durchtrainierten Israelis abgehängt zu werden. Diese Angst haben wir gefühlte drei Minuten. Dann sehen wir, dass zwei der Hohlbratzen bereits im Büro der Agentur sämtliche Ausrüstung anlegen, als würden sie zu den letzten Höhenmetern bei der Besteigung des Everest aufbrechen. „Brauch ich jetzt schon die Steigeisen?“ fragt der eine. „Ähm, nein!“ ist die kurze Antwort von Rodrigo, einem der Guides. Wozu auch Steigeisen? Wir fahren erst einmal mit dem Bus, ihr Helden. Den wasserdichten Anzug zum Rodeln hatten sie auch schon. Eigentlich braucht man ihn nur zum Abstieg. Oder wollen die Profis bergauf rodeln? „Alle Ausrüstung in den Rucksack!“ befiehlt Rodrigo. Nach 30 minütiger Fahrt erreichen wir die Seilbahn, die uns nochmal 500 Höhenmeter näher an den Gipfel bringt. Wieder beginnen zwei der Israelis ihre volle Montur anzuziehen, wieder muss Rodrigo mahnend eingreifen. Ehrlich, die Jungs und Mädels machen echt alles falsch was man falsch machen kann. Den Eispickel haben sie grundsätzlich in der falschen Hand, beim Laufen fallen sie einfach um, sie sind total unfit und hören grundsätzlich nicht zu. Man kommt sich vor wie im Kindergarten. Als sie wieder einmal Scheiß machen anstatt aufzupassen platzt Rodrigo der Sack. „What is inside here? Is it empty?“ fragt er einen der Jungs und klopft sich dabei auf den Helm. Tatsächlich erscheint es mir, als sei die gesamte Gruppe eher weniger anfällig für Höhenkrankheit. Ein Hirnödem erfordert Hirn. Vor diesem Tod braucht keiner der Helden Angst zu haben. Rodrigo verschafft seiner Wut auf eine eher ironisch subtile Art Luft. Er nennt den Heerführer der Unfähigen immer wieder liebevoll ‘Maricon’. Ins deutsche Übersetzt würde es so etwas wie ‚du bist sexuell gleichgeschlechtlich orientiert’ bedeuten. Vielleicht nicht ganz so politisch korrekt.

Nach weiteren 1000 Höhenmeter entlang steiler Felspassagen und über Eisfelder erreichen wir gerade noch rechtzeitig um 12:30 Uhr den Gipfel. Späteste Umkehrzeit war für 13:00 angesetzt. Trotzdem dürfen wir nur 10 Minuten am Vulkanrand ausharren. Der Villarica ist momentan wieder sehr aktiv. Das spüren, sehen und riechen wir. Lava wird im Minutentakt nach oben katapultiert, Schwefelgeruch ist allgegenwärtig und die Temperatur am Kraterrand ist mindestens 10 Grad wärmer. Als mit der Lava ein großer Felsbrocken nach oben geschleudert wird und 100 Meter von uns entfernt liegen bleibt, erkennen wir selbst, dass wir hier nicht allzu lange bleiben sollten.

Der Abstieg ist um ein vielfaches einfacher als der Aufstieg. Zumindest für bewegungs-legasthenisch halbwegs normale Menschen. In wasserfesten Anzügen und auf Plastikschalen rodeln wir etwa die Hälfte der Strecke bergab. Zurück bei Ilse erwartet uns der Lohn für die Strapazen des Tages. Sie hat die rustikale Hot Tub im Garten gefüllt und angeschmissen. Wie im Wilden Western steht hier noch ein holzbefeuerter Ofen im Holzfass und erhitzt was Wasser. Dazu ein Radler und Blick auf den Vulkan. Herrlich. Ein herzliches Dankeschön an Ilse für die tolle Gastfreundschaft und tolle drei Tage.

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